Vorgriffsstundenmodell

Es gibt einen neuen Aufreger in der Schule: Die ‚jungen‘ Lehrer bis zum Alter von 40 Jahren sollen eine Stunde pro Woche mehr leisten, dann zwischen 40 und 50 das reguläre Deputat übernehmen, um dann nach 50 die zuviel geleistete Wochenstunde wieder zurückzuerhalten.
Diese Idee mit dem schönen Namen ‚Vorgriffsstundenmodell‘ sieht auf den ersten Blick ganz gut aus: Mehrarbeit, solange der Elan und die Leistungsfähigkeit das hergeben, und individuelle Reduzierung im Alter.
Warum aber suche ich sofort nach einem Haken, wenn ich solche Vorschläge höre? Ganz einfach: Weil die Erfahrung lehrt, dass einer drin ist. Denn leider hat sich die Regel seit langen Jahren immer wieder bestätigt:
„In der Schulpolitik wird so gut wie keine Neuerung eingeführt, die nicht mindestens als Nebeneffekt eine Einsparung zur Folge hat.“ So auch hier: Letztlich läuft das auf eine Gehaltskürzung hinaus.
Ich selbst habe erst mit 40 überhaupt angefangen, ein volles Deputat zu übernehmen. Mir war von Anfang an klar: Kein Mensch kann 25 Stunden Unterricht pro Woche auf einem angemessenen Niveau vorbereiten - erst recht kein Berufsanfänger. Daher habe ich in den ersten Jahren auf 18 Stunden reduziert, später auf 20. Das hat erheblich zu einem guten Berufsstart und zur Berufszufriedenheit beigetragen. Ich habe dabei zwar 100% gearbeitet, aber letztlich auf einen guten Teil des Gehalts verzichtet - aber als Investition in meine Gesundheit war es mir das wert.
Wenn ich jetzt Berufsanfänger wäre und unter die neue Vorgriffsstundenregelung fiele, würde ich sicher auch reduzieren - und zwar nicht auf 19, sondern wieder auf 18 Stunden. Diese Regelung hat also letztlich nur zur Folge, dass sich der Gehaltsverzicht erhöht! Ich habe schwer die Vermutung, dass genau das angestrebt wird. Denn in der Benachrichtigung über die neue Regelung, die am Schwarzen Brett hing, wurde gleich darauf verwiesen, dass bis Januar der Antrag auf Reduktion im nächsten Schuljahr fristgerecht eingereicht werden müsse - eine freundliche Einladung zum Verzicht.
Ich will jetzt gar nicht darüber nachdenken, ob die jungen Kollegen 15 Jahre später ihre Stunden tatsächlich zurückbekommen werden. Denn dann werden die Politiker, die die Vorteile der Regelung jetzt für sich verbuchen können, längst pensioniert sein. Und ihre Nachfolger werden versuchen, die ererbten Schulden zu reduzieren...
Nein, mein Einwand ist viel grundsätzlicher: Was wir brauchen, ist keine Mehrarbeit, sondern Entlastung! Wenn es in der Schulpolitik um Qualität des Unterrichts ginge (konjunktivus irrealis?), müsste ganz klar das Deputat abgesenkt werden. Ich bin wirklich fest davon überzeugt:
Kein Gymnasiallehrer kann auf Dauer 25 Unterrichtsstunden pro Woche auf einem angemessenen Niveau abhalten. Daher gibt es eigentlich nur zwei Möglichkeiten: freiwillige Reduktion des Deputats (das machen viele, daher gibt es überdurchschnittlich viele Teilzeitkräfte in unserem Beruf) oder Absenkung des Aufwands, den man für den Unterricht, für die Klasse oder jeden Schüler leistet (das machen auch viele, wovon jeder ehemalige oder aktuelle Schüler ein Lied zu singen weiß ).1
Wenn ich dann auch noch derzeit im Rahmen der Pisa-Berichterstattung das Sonntagsgerede höre, in dem von vermehrten Investitionen in die Bildung die Rede ist, muss ich schwer an mich halten.

1 Ein dritter Weg, auf dem ich selbst mich ganz wohl fühle, der aber auch nicht jedermanns Sache sein kann, ist die Übernahme von Zusatzaufgaben, die mit Entlastungsstunden verbunden sind. Auch wenn die Arbeitsbelastung dadurch unterm Strich nicht weniger wird, wird der Unterricht eher besser, weil man weniger Klassen ‚im Kopf‘ haben muss.